Historische Grundwissenschaften und Historische Medienkunde
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Historische Fachinformatik

Der Computer ist aus dem Alltagsleben des Historikers nicht mehr wegzudenken: Kaum ein historischer Text wird mehr ohne die ‚intelligente Schreibmaschine‘ geschrieben, die so schön Fußnoten setzen, Überschriften hervorheben oder Seitenzahlen automatisch einfügen kann. Aber auch bei der Suche nach Informationen sitzen die Historiker lange vor den Computern. Die Vorteile elektronischer Bibliothekskataloge überzeugen spontan. Immer häufiger sind aber auch andere Arbeitsmittel der Historiker mit Hilfe des Computers erschlossen: Archivrepertorien werden inzwischen auch mit elektronischer Hilfe erstellt und immer häufiger auch über das Internet ebenso weltweit recherchierbar gemacht, wie es mit den Bibliothekskatalogen schon länger der Fall ist. Überhaupt, das Internet: Auch die Historiker kommunizieren inzwischen mit ihren Kollegen weltweit über E-Mail, diskutieren heiß in Mailinglisten wie H-Soz-u-Kult oder beim Digital Medievalist (dm-l). Aber auch ohne Internetzugang kann man mit dem Computer auf historische Informationen zugreifen: Auf CD gebrannt findet man umfangreiche Quellensammlungen ebenso wie bunte Präsentationen von historischen Themen mit Bildern und Tönen.

Dennoch sind es häufig noch Visionen, die dem Historiker am Computer präsentiert werden. Nicht nur archivische Findmittel, sondern auch die Dokumente der Archive selbst im Internet einsehen? Es gibt die ersten erfolgreichen Beispiele, umfangreiche Bestände einzuscannen und im Internet anzubieten. Unbemerkt bleiben umfangreiche Quellen- und Informationsdatenbanken, die von einzelnen Historikern für ihre ganz speziellen Arbeiten erstellt worden sind. Aber viele Arbeiten zeigen, daß dieses Arbeitsmittel nicht nur unvermeidlich war, sondern auch ganz neue Auswertungsmöglichkeiten ergeben hat. Die umfangreiche mit Statistiken arbeitende Literatur der vergangenen 30 Jahre hat nicht nur die sozialhistorischen Erkenntnisse vertieft, sondern auch das Bild der Breitenkultur stark erweitert, wenn die Verbreitung von Büchern oder die Inhalte von Testamenten erforscht wurden.

Trotzdem scheint die eigentliche ‚Geschichte‘, die Erzählungen und Analysen vom Handeln und Leiden des Menschen in der Vergangenheit, noch nicht in den Computer gelangt zu sein. Während Naturwissenschaftler oder Mediziner auf umfangreiche elektronische Zeitschriften zugreifen können, für manche Themen kaum noch bedrucktes Papier in die Hand nehmen müssen, findet man wissenschaftliche Veröffentlichungen von Historikern nur selten. Etwas besser sieht es bei den Quellen aus: Digitale Editionen interessieren viele Historiker, erzeugen hohe Zugriffszahlen im Internet und locken große Gruppen auf Kongresse. So werden sowohl parallel zu gedruckten Editionsprojekten elektronische Varianten angeboten (z.B. die dMGH) als auch ganz neue rein digitale Editionsmodelle ausprobiert (vgl. die Zusammenstellungen in der VL-GHW: http://www.vl-ghw.lmu.de)

Schöne neue Welt? Müssen wir nur noch etwas warten, dann braucht kein Historiker mehr in irgendein Archiv zu reisen? Wird die Vision der ‚histoire totale‘ verwirklichbar, wenn man alle Überbleibsel der Vergangenheit endlich digitalisiert hat und sie damit ganz neu ordnen, durchsuchen und beschreiben kann? Kann sich jeder demnächst ‚seine‘ Geschichte aus der Vielzahl der elektronisch verfügbaren Informationen jeden Tag neu erzählen lassen?

Nein, natürlich nicht. Es erfordert viele viele Zwischenschritte bis aus dem digitalen 0/1-Schema historische Wahrnehmung und Wirklichkeit wird. Dazu gehört einerseits die Arbeit daran, die vorhandenen historischen Informationen aufzubereiten, sich zu überlegen, was daran ‚vernulleinsbar‘ ist. Welche Strukturen eine Akte, eine Chronik, eine Urkunde hat, die mit Hilfe des Computers lesbar gemacht wird, scheint noch verhältnismäßig leicht zu ermitteln: Buchstaben bilden Wörter, die wiederum Text bilden. Bilder? Naja, die kann man ja inzwischen auch so in Bildpunkte zerlegen, daß das menschliche Auge die Punkte nicht mehr sieht. Was aber, wenn nicht mehr nur der Mensch die Texte lesen können soll? Wenn man nach einer Person sucht, nach einem Ereignis, nach einem historischen Phänomen? Mit einem Mal sind Feinheiten der Orthographie wichtig, die einem mittelalterlichen Schreiber egal sein konnten. Und ein Ereignis braucht einen Namen, geschweige denn ein historisches Phänomen. Also muß es auch darum gehen, zum Text – und noch viel mehr zum Bild! – Informationen hinzuzufügen, die jedem Historiker selbstverständlich sind, wenn er den Text liest, dem Computer jedoch nicht.

Und dann sind die Informationen immer noch nicht ‚beieinander‘. Der eine will wissen, wie viele Menschen in München um 1500 gelebt haben, der andere will wissen, ob unter diesen auch ein gewisser Mathäus Prazl gewesen ist, dessen Leben besonders interessant zu sein scheint. Da braucht man Bürgerlisten, Steuerlisten, Zunftrollen, Urkunden und ordnet sie jeweils anders, zählt Namen oder sucht nach Angaben über ein Haus, das Prazl besessen hat, findet gar Akten von seiner Hand – immerhin war in den 1470er Jahren Kammerschreiber des bayerischen Herzogs. Dem Computer muß also gesagt werden, wie er Namen in einem Dokument zählt aber auch, wie er sie in unterschiedlichen Dokumenten sucht.
Aufgabe der Historischen Fachinformatik ist also die Übersetzung von historischer Arbeit in die Sprache des Computers, damit dieser bei der historischen Arbeit helfen kann – eine geschichtliche Hilfswissenschaft eben. Herausgefordert werden die Fachinformatiker dadurch, daß sowohl die Quellen als auch historische Argumentation und Darstellung häufig nicht binär sind, sondern unscharf, ambivalent, plausibel statt sicher, komplex, offen, individuell statt regelhaft und so weiter. Ob auch für diese ‚nichtdigitalen Informationen‘ der Computer nützlich gemacht werden kann?

Sehr viel konkreter ergeben sich also für die Historische Fachinformatik folgende Arbeitsbereiche: Wie können historische Texte präsentiert werden? Das reicht vom Desktop Publishing, d.h. die Vorbereitung eines dem Inhalt angemessenen und schönen Layouts über die Fragen nach Strukturen und Funktionalitäten digitaler Editionen, Überlegungen, welche Informationen der Quelle wie in einer solchen digitalen Edition recherierbar sind, bis hin zu technischen Fragen des Mediums Internet, in seiner Flexibilität und Instabilität.
Ein zweiter Arbeitsbereich beschäftigt sich mit der Frage, wie die Quellen mit Hilfe des Computers ausgewertet werden können. Ergebnisse solcher Arbeiten sind häufig Datenbanken, die die Informationen zu einer spezifischen historischen Fragestellungen strukturiert und normiert anbieten und – vielleicht gar nicht so gewollt auch für andere Fragestellungen neues Material anbieten. Geographische Informationssysteme, die den Zugriff auf historische Informationen erlauben, sind dabei vielleicht die technologisch anspruchsvollste Variante.

Die Leistungsfähigkeit der modernen Computer hat den Begriff ‚Multimedia‘ beinahe zum Synonym für auf Computertechnologien basierende Medien gemacht. Es ergibt sich daraus ein dritter Schwerpunkt der Arbeit der Historischen Fachinformatik: Von der Digitalisierung eines Bildes mit Hilfe von digitalen Kameras oder Scannern bis hin zur Integration in multimediale Umgebungen, der Darstellung von Geschichte mit Bild, Film und auch Ton.

Solche analytischen Fragen lassen sich natürlich immer leichter beantworten, wenn man sie konkret ausprobiert, und so gibt es eigentlich keinen Historischen Fachinformatiker, der sich nicht schon an einer digitalen Edition, an einer umfangreichen Auswertung mit Hilfe des Computers oder an einer Internetpräsentation versucht hat. Und solche Aufgaben sind es auch, über die viele Studierende und Forscher den Weg zur Historischen Fachinformatik finden, denn: Der Computer ist aus dem Alltagsleben des Historikers nicht mehr wegzudenken.

(Georg Vogeler)

Literaturhinweise:

Andreas Ohrmund, Paul Tiedemann, Internet für Historiker. Eine praxisorientierte Einführung, 1999.
Bärbel Biste, Rüdiger Hohls (Hg.), Fachinformation und EDV-Arbeitstechniken für Historiker. Einführung und Arbeitsbuch, 2000.


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